Aerodynamik für Speedrider.
Anfangs gaben sich die Pioniere des Speedridings mit ausrangierten Sprungfallschirmen zufrieden. Wichtig war: klein und schnell. Die Fallschirme hatten jedoch einige Probleme, die den Spaß beim Speedriding schnell trübten: sie nahmen bei etwas wärmeren Wetter schnell die Feuchtigkeit des Schnees in den Stoff auf und wurden unbrauchbar.
Die Gleitzahl war für manche Hänge zu gut oder zu schlecht und konnte
über die Bremse nicht genügend reguliert werden. Und schließlich wollte man nicht mehr als Recycling-Anlage für die Fallschirmspringer fungieren.
Die Aufgabenstellung war deutlich formuliert:die neuen Schirme müssen extrem
schnell sein, einfacher zu starten sein als der beste Schulungsgleitschirm, eine über Bremsen und Trimmer regulierbare Gleitzahl zwischen 2 und 4 haben und extrem klappstabil sein.
Einige Hersteller begannen, Serienschirme einfach zu verkleinern.
Diese Protos waren zwar super schnell und hatten ein extremes Handling, aber die Steuerwege waren inakzeptabel und das Extremflug-Verhalten absolut lebensgefährlich.
Schon die ersten Manöver mit inem auf 14² verkleinerten DHV1-2er haben uns den Spieltrieb recht schnell vergrault.
Bei einem normalen halbseitigen Einklapper wechselte der Schirm
übergangslos vom Gleitflug mit 60 km/h und 4 m/sek Sinken in einen vertikalen
Sturzflug von weit über 10m/sek. Selbst beim Soaring an der Düne in Chile war
uns mit dem Wissen gar nicht mehr wohl, bei einem mäßigen Klapper mindestens 50 Höhenmeter für das Abfangen zu benötigen.
Die Lösung musste woanders liegen: vor einiger Zeit hatte ich den Auftrag, für
einen Fallschirmhersteller einen extrem kleinen, schnellen Swoop-Fallschirm zu zeichnen.
Swoopen ist eine relativ neue Variante des Fallschirmspringens, bei der es nur darum geht, im Landeanflug soviel Geschwindigkeit wie möglich aufzunehmen, um dann wenige Zentimeter über dem Boden eine möglichst lange Strecke zu flairen.
Das geht am Besten mit einem Hook-Turn, einer durch rabiates, einseitiges Ziehen eines vorderen Tragegurtes eingeleiteten Steilkurve. Um dabei nicht einen Einklapper zu verursachen, bedarf es einen eigens für diese Spielart entwickelten Schirm.
Er darf in keinem Fall einklappen, muss Überfahrt gut in horizontale Strecke umsetzen und vor allem muss man sich auf seine Stabilität verlassen können.
Und dann waren da noch die Kites:
Seit vielen Jahren konstruiere ich auch Tube-Kites – und da galt es am
Anfang ebenfalls die Probleme zu lösen, die durch Feuchtigkeit und Extrembelastung auftraten.
Warum also nicht die Vorteile der drei Welten vereinen: Die Stabilität und Flugeigenschaften der Swoop-Schirme, die leistungsfördernden Details der Gleitschirme und die Materialien der Kites.
Das Ergebnis war ein abartig schneller, im Flug praktisch unzerstörbarer Minischirm mit extrem langen Steuerwegen.
Unser Ziel war es, dass der Speedriding-Schirm auch
von sehr guten Piloten ohne Ski start- und landbar ist, ohne auf die süchtig machendemFluggeschwindigkeit verzichten zu müssen.
Nun zur Technik unserer Speedriding-Schirme.
Manch einer der Leser wird sich fragen,
warum ich in diesem Artikel unsere Geheimnisse und mein Wissen preisgebe.
Nun, ich bin davon überzeugt, dass Speedriding zumindest mit den aktuellen superschnellen Geräten kein Massensport wird, sondern nur sehr begabten und erfahrenen Allroundsportlern vorbehalten ist.
Uns ging es beim Speedriding-Projekt um den Spaß und um die Freude,
bei der Geburt einer absolut faszinierenden Sportart dabei zu sein.
Allein das Leuchten in den Augen unserer Speedrider war uns der Aufwand wert, und nicht zuletzt haben wir auch viele neue Erkenntnisse für die Gleitschirm- und Fallschirmentwicklung dazu bekommen.
Der Gewinn des begehrten „Ispo Brand New Awards“
mit unserem Hellracer hat uns für unsere Mühen noch zusätzlich belohnt.
Mit Speedriding wird kaum Geld zu verdienen sein, auch wenn momentan so manch ein Hersteller noch das große Geld darin sieht.
Viele von ihnen haben keinerlei Erfahrung mit Fallschirmen und experimentieren aufs Geradewohl mit irgendwelchen
Minischirmen, ohne sich des Risikos dabei so richtig bewusst zu sein.
Ein einziger Klapper bei den üblichen Geschwindigkeiten von über 60km/h in Bodennähe ist für den Rider fatal, egal ob er ein erfahrener Testpilot oder nur ein naiver, übermotivierter Gleitschirmpilot ist.
Wenn die Veröffentlichung der Technik des Hellracers auch nur einem Testpiloten einen Absturz erspart, ist das Grund genug.
Das Geheimnis der Stabilität der Speedrider und Swoop-Schirme ist hauptsächlich das Profil.
Herkömmliche Gleitschirm-Profile sind nach oben und nach unten gewölbt,
im Schnitt etwa 18% der Profiltiefe dick und haben die größte Dicke bei etwa 22% der Profiltiefe, von der Eintrittskante aus gemessen. Fallschirmprofile sind anders:
Ihre Unterkante ist komplett gerade, die umfließende Luft trifft an der Öffnung an der Unterkante auf eine Stolperkante und ist somit am Untersegel von Beginn an verwirbelt.
Beim Gleitschirmprofil ist das Ziel, die Strömung an der Ober- und Unterseite so lange wie möglich laminar zu halten und verwirbelnde Kanten zu verhindern.
Trifft beim Gleitschirmprofil die Strömung in einem negativen Winkel auf die Anströmkante, wie etwa in starken Turbulenzen oder beim abrupten Ziehen am A-Gurt, dann erzeugt die Strömung an der gewölbten Unterseite einen starken Unterdruck, der den Flügel mangels gegenhaltender Leinen nach unten beschleunigt und einklappt.
Beim Fallschirm-Profil kann bei negativen Anströmwinkeln kein Abtrieb am Untersegel entstehen, da die Strömung von der Eintrittskante an komplett verwirbelt und gestört ist.
Schirme mit solchen Profilen können nicht im herkömmlichen Sinn einklappen, sondern schieben sich schlimmstenfalls zusammen und entleeren sich.
Klar, dass die Fallschirmprofile dadurch eine schlechte Gleitleistung haben.
Man erinnere sich an die Jahre 1987/88, wo es im Gleitschirmbau einen gewaltigen Leistungssprung gab:
Das war die Zeit, wo man von den Fallschim-Profilen zu eigens für das Gleitschirmfliegen entwickelte Profile wechselte.
Die gerade mal halbe Gleitleistung der Fallschirmprofile ist perfekt fürs
Speedriding geeignet, will man doch so knapp wie möglich am Hang entlangfegen und jede Kontur ausfliegen. Speed ist die Devise, Gleitleistung ist nicht gefragt.
Reduziert man die Dicke dieser Profile auf ca. 15% der Profiltiefe, dann gibt’s auch richtig Speed. Trotz der breiten Zellen und dem daraus entstehenden Ballooning (Aufblasen der Zellen) bleibt die effektive Profildicke zwischen zwei Rippen noch unter 18%, was für die Stabilität noch gut ausreicht und auch sehr kleine Anstellwinkel verkraftet.
Der Rest der Konstruktion ist dann eher Design im herkömmlichen Sinn: Eine nette Grundform, ein paar Zellen mehr oder weniger, ein paar Leinen einsparen und das Ganze noch mit einer ansprechenden Grafik versehen und fertig ist der Speedrider.
Lediglich der Einstellwinkel und die Geometrie der Bremse haben dabei noch einen tiefgreifenden Einfluss auf die Flugeigenschaften.
Lange Steuerwege sind oberstes Gebot für die Sicherheit.
Die Wahl der Materialien spielt dann wieder eine größere Rolle: Ein Speedrider fällt öfter mal in nassen Schnee, scharfe Skikanten können die Leinen beschädigen und so manch ein Acro-Pilot missbraucht ihn zum Manöverfliegen oder gar zum D-Baggen
(Absprung vom Tandem oder Ballon).
Hochfeste, luftdichte, und beidseitig beschichtete wasserabweisende Stoffe sind ebenso ein Muss wie ummantelte, überdimensionierte
Leinen.
Beschädigungen der Leinen durch Skikanten sind bei ummantelten
Leinen leichter zu entdecken und zudem ist die Wahrscheinlichkeit, den tragenden Kern zu verletzen, etwas geringer.
Festigkeitserhöhende Verstärkungen, Bänder in der Anströmkante und eine Verstärkung der Profilnase sind absolutes Muss.
Paradoxerweise sind die aktuellen Speedriding-Schirme bis auf ihre etwas kleinere Größe und modernere Materialien mit den allerersten Gleitschirmen sehr nahe verwandt.
Wir fangen beim Speedrider wieder von vorne an. Bleibt abzuwarten, ob die
Speedrider dieselbe Entwicklungsgeschichte erleben werden wie die Gleitschirme: VRippen, Ventile, Klappen, mehr Zellen usw.
– aber noch machen die kleinen Biester so
wie sie sind Spaß genug!
(c) 2007 Nesler Michael & Professional Flying Team